27. März 2020, Peter Schafflützel

Angst, andere anzustecken

Lässt sich Ansteckung überhaupt verhindern?

Eine ältere Frau wird beim Einkaufen zusammengestaucht: "Geht es Ihnen noch?! Sie gehören zur Risikogruppe und könnten sich hier anstecken. Bleiben Sie gefälligst zu Hause!" In den sozialen Medien erfährt man in empörtem Ton von Senioren, die im schönen Frühlingswetter flanieren gehen - und das womöglich noch ohne die geforderten zwei Meter Abstand voneinander. Auch sie riskieren, dass jemand sie ansteckt.

Wir möchten nicht, dass unsere Senioren sich mit dem neuen Coronavirus infizieren und an einer Lungenkrankheit sterben. Darum gehen die Kinder nicht mehr zur Schule. Darum verzichten wir aufs Ausgehen. Darum fügen wir unserem Land einen Milliardenschaden zu. Wir haben Angst, unsere Senioren zu infizieren und ihnen dann nicht genügend Beatmungsgeräte zur Verfügung stellen zu können.

Ich frage mich, ob die Person, die die ältere Frau zusammengestaucht hat, auch mit Rauchern so umgeht. Jedes Jahr sterben laut BAG 9'500 Personen in der Schweiz an den Folgen des Rauchens. Stellt sie jeden, den sie beim Rauchen erwischt, in den Senkel: "Geht es Ihnen noch?! Sie riskieren Lungenkrankheit und Erstickungstod. Hören Sie gefälligst auf zu rauchen!"? Wohl kaum.

Was ist der Unterschied zwischen gefährdeten Senioren und gefährdeten Rauchern? "Raucher sind selber schuld", könnte man sagen. Aber sind Senioren, die sich in der verseuchten Schweiz mutwillig auf Begegnungen und Berührungen mit anderen Menschen einlassen, nicht ebenso selber schuld? Wir lassen Raucher rauchen, weil sie erwachsen sind und selber für sich entscheiden können. Sollten wir erwachsenen Senioren nicht dieselbe Würde und Freiheit zugestehen?

Ist der Unterschied etwa die Angst vor den Schuldgefühlen? Bei einem Raucher ist nicht so klar, wer genau zu seinem Tod beigetragen hat: die Aktionäre der Tabakfirmen, deren Mitarbeiter, Kioskbesitzer und -verkäufer usw. Bei einem Corona-Toten gibt es einen eindeutigen Schuldigen: der ihn angesteckt hat (ausser der Infizierte ist an einer seiner Vorerkrankungen gestorben). Die schuldige Person hat ein tödliches Virus weitergegeben. Wir sehen die Zusammenhänge zwar in einem grössen Ganzen: Wer andere infiziert trägt zu einer schnelleren Ausbreitung und zur Überlastung der Spitäler bei, was zur Folge hat, dass nicht mehr alle (auch andere Kranke) die medizinische Versorgung bekommen, die sie brauchen. Die Eindeutigkeit jedoch bleibt: Wer das neue Coronavirus überträgt, ist schuld am Tod anderer.

Schuld. Niemand ist gerne schuldig. Und doch werden wir es täglich. Meine Autofahrt ist ein Beitrag zur Verschlechterung des Klimas, die viele Menschen ihr Leben kosten wird. Dass ich meinem Kind wieder nachgegeben habe, hindert es daran, veranwortlich zu werden. An der Herstellung meines Pullovers waren möglicherweise Kinder in Bangladesch unter unmenschlichen Bedingungen beteiligt. Dank dem Rat, den ich meinem Freund gegeben habe, hat er die falsche Entscheidung getroffen und nun leidet seine Familie darunter. Weil ich nichts getan habe, als ich Verdacht auf Missbrauch schöpfte, geht der Missbrauch nun einfach weiter.

Wo gearbeitet wird, passieren Fehler. Wo gelebt wird, passiert Schuld. Wo geliebt wird, passiert Ansteckung.

Was können wir dagegen tun? Zu Hause bleiben und uns von allen distanzieren? So stecken wir vielleicht niemanden mit dem Virus an, aber wir werden auf andere Weise schuldig. Bereits hört man von einer Zunahme an häuslicher Gewalt, Scheidungen, überforderten Kindern... Wir können nicht unschuldig bleiben.

Wir können und müssen das Schuldproblem nicht selber lösen, weil Christus es bereits für uns gelöst hat:

Denn so wie bisher die Sünde über alle Menschen herrschte und ihnen den Tod brachte, so herrscht jetzt Gottes Gnade: Gott spricht uns von unserer Schuld frei und schenkt uns ewiges Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn. Römer 5,21

Weil Christus uns befreit hat von unserer Schuld, brauchen wir keine Angst vor dem Schuldigwerden zu haben. Wir müssen uns nicht von der Angst leiten und bestimmen lassen. Christus befreit uns dazu, nicht aus Angst, sondern aus Liebe zu handeln. Statt zu fragen: "Wie bleibe ich schuldfrei?" Kann ich nun fragen: "Was dient meinem Nächsten zum Besten?"

Wenn der Seniorin im Laden oder beim Spazieren die Begegnung und Gemeinschaft mit Menschen offensichtlich wichtiger ist als ihre eigene Gesundheit, darf ich sie darin auch ernst nehmen. Wenn ich davon ausgehe, dass sie wegen einer möglichen Ansteckung nicht mehr lange zu leben hat - warum dann nicht erst recht dazu beitragen, dass ihr Einkauf oder Spaziergang der schönste Einkauf oder Spaziergang ihres Lebens wird?

Gott, ich danke Dir für die Freiheit zu sündigen. Das ist nicht, was ich wirklich will, aber selbst, wenn ich es wollte, hinge Deine Liebe zu mir davon nicht ab! So kann ich das Risiko eingehen, den sicheren Raum der Gesetze zu verlassen, um sie draussen ganz neu in mir zu entdecken, nicht als Formen des Gesetzes, sondern als Ausdruck der Liebe. (Ulrich Schaffer)