3. April 2020, Peter Schafflützel

Angst, jemanden zu verlieren

Dürfen alte, kranke Menschen nicht mehr sterben?

Ein Vater betritt die Ambulanz, in der seine schwer verletzte Tochter liegt. Die Situation ist so übel, dass einer der Sanitäter selber zusammengebrochen und deswegen eine zweite Ambulanz zum Unfallort unterwegs ist. Mit letzter Kraft weigert sich die lebensgefährlich verletzte junge Frau, die seit früher Kindheit Panik vor Spritzen hat, sich von den Sanitätern die Infusion stecken zu lassen, die sie beruhigen und den Sanitätern erlauben würde, sich an ihr Rettungswerk zu machen. Der Vater legt seiner Tochter die Hand auf die Stirn und beginnt ihr zu versichern: "Ich bin da. Ich liebe dich. Bitte lass die Sanitäter dir helfen. Ich will dich nicht verlieren." Mit aller Kraft versucht der verzweifelte Vater, ruhig zu bleiben, damit seine Tochter vertrauen kann. Ihm. Den Sanitätern. Gott. Immer und immer wieder diese Zusicherung. Aus Liebe zur Tochter, aber auch aus Angst, sie zu verlieren.

Was ist der Unterschied? Was ist der Unterschied zwischen seiner Liebe und seiner Angst, sie zu verlieren?

Liebe sorgt sich um den andern. Angst sorgt sich um sich selber. Die Bibel ist da sehr deutlich. Sie sagt über die Liebe:

Die Liebe ist geduldig und freundlich. ... Die Liebe ist nicht selbstsüchtig. ... Die Liebe erträgt alles, verliert nie den Glauben, bewahrt stets die Hoffnung und bleibt bestehen, was auch geschieht. 1. Korinther 13,4-7

Über die Angst sagt sie:

Die Liebe kennt keine Angst. Wahre Liebe vertreibt die Angst. 1. Johannes 4,18

Dennoch sind Liebe und Angst in der Realität oft sehr nahe beieinander. Das führt immer wieder dazu, dass wir uns von Angst bestimmen lassen, wo wir meinen, aus Liebe zu handeln. Das ist in der gegenwärtigen Virenangstzeit nicht anders.

Liebe im biblischen Sinn bedeutet, das Beste für den andern zu wollen und zu tun. Doch was ist das Beste für den andern? Ist es das Beste für die Tochter zu überleben? Was, wenn Gott, der das Leben schenkt, es auch wieder nimmt? Wir wissen nicht, was das Leben dem anderen bringen wird. Wird er Glück und Freude erleben und Gottes Liebe weiterschenken? Oder wird er mit jedem Jahr unglücklicher oder egoistischer werden? Und wir wissen auch nicht, was der Tod ihm bringen wird. Bedeutet der Tod für ihn die endgültige Verlorenheit oder wird er mit Christus auferstehen und das Fest des ewigen Lebens mitfeiern?

Das Durchschnittsalter der Menschen, die in der Schweiz bisher mit dem neuen Coronavirus gestorben sind, ist 83 Jahre, und 97% der Verstorbenen hatten bereits Vorerkrankungen. Warum fällt es uns so schwer zuzulassen, dass alte, kranke Menschen sterben? Wenn unser Gesundheitssystem sich auf die anderen Personen konzentrieren könnte, gäbe es von Überlastung keine Spur, wir bräuchten keine Zwangsmassnahmen, die viele Menschen zur Verzweiflung bringen, und könnten Länder unterstützen, wo auch jüngere Menschen bedroht sind. Geht es da wirklich um unsere Liebe zu den Menschen? Oder ist es nicht doch etwa die Angst, die uns umtreibt? Angst, liebe Menschen zu verlieren? Angst, es nicht im Griff zu haben? Angst um uns selber?

Ich will nicht behaupten, dass ich angstfrei bin. Auch dieser Text ist möglicherweise von Ängsten beeinflusst. Ich möchte uns Mut machen, unsere Ängste wahrzunehmen, sie uns einzugestehen, und uns immer wieder zu entscheiden, uns nicht von ihnen bestimmen zu lassen, sondern von der Liebe. Ich möchte uns Mut machen, unsere Hoffnung auf den einzigen zu setzen, der wirklich die Macht hat, Menschen zu retten. Jesus sagt im Anschluss an sein Gleichnis vom Verlorenen Schaf:

Ebenso will euer Vater im Himmel nicht, dass auch nur einer, und sei es der Geringste, verloren geht. Matthäus 18,14

Wir haben einen Vater im Himmel, dem wir uns und unsere Lieben anvertrauen dürfen. Die Liebe hat keine Angst, einen Menschen zu verlieren, weil sie weiss, dass Gott selber nicht will, dass er verloren geht.

Zurück zum engen, chaotischen Ambulanzinnern, wo ein verzweifelter Vater seiner lebensgefährlich verletzten Tochter seine Liebe zuspricht. Mit der Hand ihres Vaters auf der Stirn, dem liebevollen Blick, den sie von ihm empfängt und den wiederholten Zusicherungen wächst ihr Vertrauen schliesslich so weit, dass sie die lebensrettende Injektion zulässt. Bald darauf ist sie eingeschlafen, und der erschöpfte Vater verlässt die Ambulanz. Die Tochter wird zum Rettungshelikopter gefahren, zum Spital geflogen, sofort operiert und ins Leben zurückgeholt.

Nun betet der Vater weiter für sein Kind - wie er es schon seit vielen Jahren tut - dass es nicht verloren geht. Beten nicht aus Angst, sondern aus Liebe.