23. April 2020, Peter Schafflützel

Angst, unsolidarisch zu sein

Ist Solidarität die neue Frömmigkeit?

Der gesellschaftliche Umgang mit dem Coronavirus nimmt religiöse Züge an: Wer sich im privaten Alltag nicht an die vom Bund festgelegten Verhaltensregeln hält, gilt als unsolidarisch. Milliardenschwere Opfer werden gefordert und erbracht. Menschen ergeben sich in kollektiven Ritualen, wie dem Applaus am offenen Fenster, und drücken ihre Verehrung für Regierung und Gesundheitswesen in Social-Media-Statements aus, während pharisäische Bürger Solidaritätssünder der Polizei melden. Die Angst vor dem Coronavirus fördert eine Art säkularer Staatsreligiosität.

Jesus war gegen das Händewaschen vor dem Essen. Das sollte ihn angesichts moderner medizinischer Erkenntnisse eigentlich diskreditieren. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass Jesus sich nicht gegen Hygiene verwahrte, sondern gegen die Form von Religiosität, die sich darin ausdrückte. Ausgangspunkt der Diskussion im Matthäusevangelium (Mt 15,1 ff.) war die Frage von Pharisäern und Schriftgelehrten: «Warum übertreten deine Jünger die Überlieferung der Alten? Sie waschen nämlich die Hände nicht, wenn sie Brot essen.»

Die Antwort von Jesus gipfelte in dem Satz: «Nicht was in den Mund hineingeht, macht den Menschen unrein, sondern was aus dem Mund herauskommt, das macht den Menschen unrein.» Seine Kritiker gingen davon aus, sie seien gute, gottgefällige Menschen, wenn sie sich an die kultischen Regeln hielten. Dazu gehörte das rituelle Händewaschen vor dem Essen. Jesus hielt ihnen ihre Lieblosigkeit entgegen, die sich in den Worten äusserte, die aus ihrem Mund kamen. Konkret nannte er ihre mit einer religiösen Ausrede begründete Weigerung, für ihre Eltern zu sorgen. Nicht Regelverstösse machten den Menschen schlecht, sondern Lieblosigkeit.

Hände waschen, Nägel schneiden

Bis vor kurzem war das Händewaschen einfach Teil unserer persönlichen Hygiene wie das Zähneputzen und das Nägelschneiden. Nun ist es ein Solidaritätsakt, genauso wie das Abstandhalten und Zuhausebleiben. Im Namen der Solidarität wird von Gastwirten und Organisatoren von Veranstaltungen erwartet, dass sie helfen, die per Notrecht verfügten Verhaltensregeln einzuhalten, auch wenn das Opfer bedeutet, die zu ihrem finanziellen Ruin führen können. Um der Solidarität willen werden Tausende von Menschen arbeitslos. So verständlich und begründet die Massnahmen sein mögen, eines müssen wir uns klarmachen: Wir opfern Freiheit, Gemeinschaft, psychische Gesundheit und wirtschaftliche Sicherheit – im Namen der Solidarität.

Doch Solidarität mit wem? Mit den Kindern, die an Masern sterben, weil viele Länder wegen ihrer Corona-Massnahmen die Impfungen ausgesetzt haben? Mit den indischen Tagelöhnern, die wegen des Lockdowns weder für sich noch für ihre Familien sorgen können? Mit den vielen Flüchtlingen, die nun einfach sich selbst überlassen werden? Oder vielleicht doch nur mit uns selbst, die wir um unsere körperliche Gesundheit fürchten, und mit denen, die mit uns im gleichen Boot sitzen?

Darum geht es doch bei dieser neuen Frömmigkeit: um die Bewahrung unserer biologischen Körperfunktionen. Wir sperren die Alten weg, damit sie uns nicht wegsterben. Unter welchen Bedingungen sie leben, ist anscheinend von geringerer Bedeutung, solange sie nur leben. Pointiert gesagt: Ihr Überleben ist uns wichtiger als ihr Leben.

Gesundheit und Gott

Körperliche Gesundheit ist ein kostbares Gut, das viele Opfer wert ist. Aber sie ist nicht das einzige Gut. Sie ist nicht Gott. Wenn sie es wäre, wäre die Gesundheit ein Gott, den man mit Recht zu fürchten hätte. Denn sie rächt gnadenlos jedes Vergehen gegen sie und bestraft uns am Ende mit dem Tod, auch wenn wir unser Leben lang alle ihre Gebote gehalten haben.

Jesus verkündet einen andern Gott: einen Gott, der sich liebevoll den Versagern, Regelbrechern und Sündern zuwendet und jedem ewiges Leben schenkt, der ihm vertraut. Auch das ist ein Grund, Hygiene ernst zu nehmen. Christen gehen davon aus, dass ihr Leib «ein Tempel des heiligen Geistes ist, der in euch wirkt und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört» (1. Korinther 6,19). Dem Körper Sorge zu tragen, ist darum Teil ihres Gottesdienstes, bleibt aber der Liebe zu Gott und zu den Menschen untergeordnet.

Der heilige Franz von Assisi umarmte Leprakranke, und der Reformator Huldrych Zwingli besuchte Pestkranke in bewusster Missachtung der eigenen körperlichen Gesundheit. Nach den heutigen Frömmigkeitsmassstäben würden beide als unsolidarisch verurteilt werden, weil sie riskierten, sich und andere anzustecken. Für den religiösen Eifer ist das Einhalten der Regeln oberstes Gebot. Jesus dagegen hätte die beiden für ihre Regelbrüche gelobt als Vorbilder wahrer Nächstenliebe, die auch mit Infizierten solidarisch ist.

Wer ist «rein» genug?

Die gegenwärtige Dynamik zwischen Regierung und Bevölkerung begünstigt die Entwicklung einer säkularen Staatsreligiosität. Wir erheben Wissenschafter in die Rolle von Schriftgelehrten, die im Namen der körperlichen Gesundheit die Verhaltensregeln für unsern Alltag festlegen, und erwarten von der Regierung und der Polizei das priesterliche Urteil darüber, wer «rein» genug ist, um am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen. Voneinander fordern wir Solidarität und wachen pharisäisch darüber, dass die anderen sie einhalten. Das mag vielen als «christlich» erscheinen, widerspricht so aber der christlichen Liebe, die selbstlos und in Freiheit das Beste für den andern sucht und tut.

Regeln und Solidarität sind für das Funktionieren der Gesellschaft unabdingbar, und es ist beeindruckend, zu welchen Opfern viele von uns bereit sind, um die Gesundheit anderer zu schützen. Der religiöse Eifer, mit dem sie von manchen eingefordert werden, ist allerdings bedenklich. Er spricht dem Einzelnen die Fähigkeit ab, selbst das Gute zu wollen, und nimmt ihm die Freiheit, es auf seine eigene Weise zu tun. Wir dürfen einander mehr zutrauen. Wo Gottes Geist in den Menschen wirkt, da lässt er eine Solidarität wachsen, die nicht am Rand des eigenen Bootes aufhört.


Erschienen am 23. April 2020 in der Neuen Zürcher Zeitung unter dem Titel "Coronavirus: Solidarität ist wichtig. Aber sie darf nicht zur Religion werden"

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