11. Dezember 2020, Peter Schafflützel

Solidarität mit Gegnern

Daniel Bosshard, Präsident der Grünen Partei St. Gallen, ist empört. Anlass für seine Empörung sind Aussagen des St. Galler Regierungspräsidenten Bruno Damann. Als gelernter Arzt, der sich dem Einsatz für Gesundheit und Rettung von Menschenleben verschrieben hat, weiss Damann, dass sich ein Leben nicht endlos verlängern lässt. Es kommt der Punkt, an dem sich der Tod nicht mehr verhindern lässt – ob mit oder ohne Coronavirus. Diese Realität sollte nicht verleugnet werden, findet Damann: «Sterben gehört zum Leben. Unsere Gesellschaft hat verlernt zu sterben.»

Bosshard ist über diese Haltung so empört, dass er Damann aufforderte, sich für seine «menschenverachtenden Aussagen» öffentlich zu entschuldigen. Bosshard gehört offenbar zur «Generation Beleidigt», wie sie die französische Feministin Caroline Fourest im gleichnamigen Buch beschreibt . Begünstigt durch die Empörungswut der sozialen Netzwerke ereifert sich diese Generation von Aktivisten über alles Mögliche, bis eine selbstquälerische Entschuldigung des Denunzierten folgt. Selbst die Realität, dass Leben mit der Zeugung beginnt und mit dem Tod endet, wird als diskriminierend empfunden. Zur Verdrängung solch unangenehmer Wahrheiten vergeht sich das beleidigte Ego an der Meinungsfreiheit anderer.

Freilich, wer sich nun über Bosshard empört, macht sich ebenfalls schuldig. Ich kenne weder Bosshards Erfahrungshorizont noch die Motive für seinen moralischen Absolutismus. Wurde vielleicht eine ihm nahestehende Person invasiv beatmet? Befürchtet er, die Menschen würden nicht mehr gegen Krankheiten kämpfen, wenn sie den Tod als Teil des Lebens akzeptierten? Ihn zu verurteilen wäre überheblich und selbstgerecht.

Selbstgerechtigkeit und Selbsterkenntnis

Selbstgerechtigkeit machte auch Jesus zu schaffen. Moralaktivisten vor rund 2000 Jahren brachten laut Johannesevangelium eine Frau zu Jesus, die beim Ehebruch ertappt worden war – damals ein gesellschaftsbedrohendes Verbrechen, das mit Steinigung bestraft wurde. Die Empörten wollten von Jesus wissen, was er dazu sage. Nach langem Schweigen antwortete er: «Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.» Darauf brachen die Influencer von damals ihren Shitstorm ab und gingen einer nach dem andern weg.

Für Jesus kam der Schutz der Gesellschaft nicht an erster Stelle. Wäre es Jesus um die äussere Freiheit gegangen, hätte er die römische Besatzungsmacht aus dem Land vertrieben. Wäre es ihm um die äussere Gesundheit gegangen, hätte er ein nachhaltiges Gesundheitssystem aufgebaut. Viel wichtiger war ihm die Überwindung der inneren Krankheit und der inneren Gebundenheit. Solidarität beginnt mit Selbsterkenntnis: Viele meiner Worte und Taten entspringen nicht der Liebe, sondern meiner Angst, meiner Empörung, meiner Verletzung, meiner Gier oder einer andern unheilsamen Motivation. Diese Erkenntnis allein macht zwar weder heil noch frei, aber sie macht solidarisch mit Menschen, die in unseren Augen das Falsche tun, und befreit uns vom Zwang, sie verurteilen zu müssen.

Solidarität in Coronazeiten

Gott ging einen wesentlichen Schritt weiter. Er wurde an Weihnachten Mensch und solidarisierte sich mit uns, obwohl der Gegensatz zwischen Mensch und Gott nicht grösser sein könnte. Er ging sogar so weit, dass er die Konsequenzen unseres Scheiterns und Versagens auf sich nahm und an unserer Stelle am Kreuz starb. Kann man ein solches selbstloses Opfer überhaupt noch Solidarität nennen? Es geht hier nicht um eine Verbundenheit zwischen Gleichgesinnten oder Gleichgestellten. Die Bibel nennt es darum auch nicht Solidarität, sondern Liebe. Statt uns zu verurteilen und dem Tod zu überlassen, schenkt Christus uns Anteil an seiner Auferstehung und seinem ewigen Leben.

Solche göttliche Solidarität brauchen wir in Corona-Zeiten besonders. Sowohl Gesundheit als auch Freiheit sind wichtige Güter, um die es sich zu kämpfen lohnt. Ich würde mir wünschen, dass wir einander die gegensätzlichen Prioritäten solidarisch eingestehen können, ohne einander zu verurteilen, und wieder neu staunen lernen über die unglaubliche Solidarität, die Gott uns Menschen erweist: seine grenzenlose Liebe. Gottes Liebe lässt uns in unserem Anderssein nicht bloss stehen, sondern überwindet alle Differenzen. An Weihnachten feiern wir, dass Gott in unsere Welt gekommen ist. Wo Menschen sich mit ihm versöhnen lassen, beginnen ewige Gesundheit und Freiheit schon jetzt.


Publiziert am 11. Dez. 2020 im Magazin Zukunft CH